Im Schatten des Drachen by Leuning A

Im Schatten des Drachen by Leuning A

Author:Leuning, A. [Leuning, A.]
Language: deu
Format: epub
ISBN: 9783863610432
Publisher: Himmelstürmer Verlag
Published: 2011-04-25T22:00:00+00:00


Dublin, Krankenhaus, 10. Mai 2002 abends

Nur sehr langsam klärten sich die Gedanken, fanden die Sinne wieder die Verbindung zueinander, befreiten sich aus dem Chaos, das die Narkose in ihm angerichtet hatte. Er hatte Angst, die Augen zu öffnen, aber die ungewohnte Helligkeit um ihn herum zwang ihn schließlich doch zu einem Orientierungsversuch.

Plötzlich hörte er eine vertraute Stimme.

„Hannes? Bist du wach?“

Sie drang wie von weit her an sein Ohr, und am liebsten hätte er die Brücke zwischen ihr und sich nicht beschritten. Aber seine Sinne drängten ihn zum Weitergehen, das Leben in ihm zwang ihn zum Weiterfunktionieren, mit der Stetigkeit seines Herzschlages, den er mittlerweile wieder kräftig in seinem Brustkorb spürte.

Er öffnete die Augen. Er lag in einem weißen Krankenhauszimmer, in einem weiß bezogenen Bett, neben ihm stand ein weißer Nachttisch, darauf eine weiße Plastikschnabeltasse und eine weiße Porzellanvase mit Blumen. Gelben Blumen, Gerbera vielleicht, er kannte sich damit nicht aus. Aber bestimmt waren es Gerbera, denn die würden zu der Stimme passen, die er gerade gehört hatte. Die Stimme seiner Schwester. Und jetzt sah er sie auch.

„Fine.“

Der Name kam ihm nicht leicht über die trockenen Lippen. Im nächsten Moment fühlte er, wie sich eine Hand fürsorglich unter seinen Kopf schob, während eine andere die Schnabeltasse an seinen Mund führte.

„Trink erstmal was.“

Die penetrante Sanftheit in ihrer Stimme machte Johannes fast wahnsinnig, ließ ihn um so deutlicher spüren, dass irgend etwas nicht stimmte, ganz und gar nicht stimmte, aber die Stimme wollte ihm nicht verraten, was es war.

Sie sahen sich an. Bruder und Schwester, von Kindesbeinen an untrennbar miteinander verbunden, auch über die schwere Zeit hinweg, als die Eltern ihn beinahe hinausgeworfen hatten, weil er so anders war, als sie es sich gewünscht hatten. Josefine hatte zu ihm gestanden, hatte das Band zwischen ihnen festgehalten, und war auch jetzt wieder bei ihm, hier, in Dublin, in diesem Krankenhaus, an seinem Bett. Soviel war ihm nun erst einmal zu seiner momentanen Situation klar geworden.

„Was ist passiert, Hannes? Die Ärzte sagten, du hättest gestern einen Motorradunfall gehabt. Aber du kannst doch gar nicht fahren, oder? Du hast keinen Motorradführerschein.“

Wie Gewitterblitze kehrten die Erinnerungen an gestern zurück. Oder war es letzte Woche? Letztes Jahr? Irgendetwas in Johannes sträubte sich gegen die Bilder wie Hundefell, das man gegen den Strich zu bürsten versuchte. Er schaffte es nicht, sich an Einzelheiten zu erinnern. Nur verschwommene Bilder von einem aufgebockten Motorrad, einer mit Kies überzogenen Straße, einem schwankenden Bus und einer Tachonadel im roten Bereich drangen an die Oberfläche, und dann zerriss ein gellender Schrei auch die letzte Verbindung.

„Maaaarc!!!“

Nur zögernd löste sich ihr Klammergriff um seinen Arm, mit dem sie ihn unerbittlich fest in die Kissen gedrückt hielt. All zuviel Kraft war dazu nicht nötig gewesen, denn sein Körper schien ihm so leicht und widerstandslos wie eine Daune, die der nächste Windstoß davontragen würde. Nur die Wärme des Tees in seinem Magen verriet ihm, dass er aus mehr bestand als aus dem, was er sah.

„Wo ist Marc?“, hörte er sich krächzen.

Josefine blickte ihn ruhig an.

„Es geht ihm gut.“

Johannes



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